Hallo in die Runde,
wie bereits angekündigt, erwarten euch in den kommenden Tagen und Wochen Beiträge zu den Büchern von Tanja Meurer, die mit ihren Büchern an der Buch-WM teilnimmt. Die erste Runde hat sie mit Bravour bestanden und das erste Battle für sich entscheiden können.
Da sie sich heute dem zweiten Kampf stellt, übergebe ich ihr das Wort – sie hat einen spannenden Beitrag zum Thema “Berliner Unterwelten” geschrieben. “Glasseelen” spielt zum großen Teil in den Unterwelten der Hauptstadt – Grund genug also, dass sie euch ein bisschen mehr darüber erzählt:
Berliner Unterwelten
Habt ihr schon mal etwas von den Berliner Unterwelten gehört? Falls noch nicht, gibt es hier eine kleine Einführung 🙂
Die Berliner Unterwelten sind ein Geflecht aus Bunkern, Tunnelanlagen, U-Bahnnetzen und Geisterbahnhöfen, allerdings gehören hierzu auch weniger beeindruckende Anlagen, wie beispielsweise das Rohrpostnetz der Stadt Berlin und die Abwasserkanäle. So unspannend ist allerdings allein das Rohrpostnetz der Stadt schon nicht. Es ist älter als das Abwassersystem und war bis zur teilweise großen Zerstörung durch die Bombennächte des 2. Weltkrieges und die anschließende Teilung der Stadt, gewaltig, rund 400 km lang.
Über den Berliner Unterwelten e.V. kann man sich viele der Anlage, die es heute noch gibt, ansehen. Beispielsweise habe ich 2015 die Bunker-Tour mitgemacht und war schon verblüfft, auf welch engem Raum die Menschen die Bombennächte durchgestanden haben. Zusammengepfercht auf engstem Raum, nebeneinander sitzend auf schmalen Bänken, umgeben von Rohbeton. Die sanitären Anlagen (ja, es gab welche), ließen keine Chance auf Privatsphäre. Tiefbunker sind auch heute noch über enge und teilweise sehr steile Treppen zu erreichen.
Interessant sind auch die unterirdisch liegenden Brauereianlagen der Stadt. Es gibt eine alte Tunnelanlage von AEG, die man noch begehen kann. Ebenso die Flackturm im Volkspark Humboldhain, dessen Bunkeranlagen teilweise wieder begehbar sind und ganz besonders die sogenannten Geisterbahnhöfe. Leider konnte ich damals die letzte Tour nicht mitmachen, weil sie zeitlich einfach nicht mehr in meinen Plan Berlin zu durchkämmen passte. Aber gerade die Geisterbahnhöfe haben es mir angetan. Es sind entweder stillgelegte oder unbeendete unterirdische Bahnhöfe, durch die die U-Bahnen immer noch fahren. Dort ist die Beleuchtung gedimmt und alles hat ein sehr lebensfremdes, unheimliches Flair, das unter die Haut kriecht und einem alle möglichen Horrorvisionen vorgaukelt.
Die meisten Touren haben einen geschichtlichen Bezug, etliche mit Schwerpunkt des 2. Weltkrieges und einige mit Schwerpunkt des kalten Krieges. Allerdings ist auch das Thema “Flucht aus der DDR” ein wichtiges Thema, denn es gab etliche Fluchtversuche durch die Erde, einige (erfolgreiche) über U-Bahntunnel.
Leider lässt sich hier gar nicht die Vielfalt und das weite Spektrum des unterirdischen Berlin darstellen. Einige Fakten, insbesondere über den Berliner Unterwelten e.V. könnt ihr hier nachlesen. Und wer sich für Touren und Literatur dazu interessiert, wird hier fündig.
Der Berliner Unterwelten e.V. hat einen eigenen Verlag und die meisten Bücher bieten sehr gute Zusatzinformationen zu den Touren.
Versorgungstunnel der Charité
Was allerdings hiervon nicht abgedeckt wird, sind solch kleine Besonderheiten wie die Versorgungstunnel der Charité. Zwischen den Gebäuden gibt es ein verzweigtes Tunnelsystem. Im Rahmen einer anderen Führung könnt ihr ebenfalls das Unterirdische Tunnelsystem besichtigen. Auf der Homepage er Charité findet man folgende Zitate zu den Tunneln:
Besonders Mutige können in der Führung „Underground“ einen Blick in das unterirdische Tunnelsystem der Charité werfen.
Abseits von den medizinischen Themen sind die Begehungen des unterirdischen Tunnelsystems „Charité Underground“ und Besichtigungen der neuen Rohrpostanlage sowie historische Geländeführungen besonders spannend. Der Eintritt in das Berliner Medizinhistorische Museum ist von 10 bis 19 Uhr frei.
Im Zusammenhang mit Glasseelen habe ich mich bei den Tunnel- und Bahnhofsanlagen ziemlich genau an die Realität gehalten.
Wer das Buch gelesen hat, wird mit Camilla in der Charité gewesen sein, in dem unfertigen Geisterbahnhof, in den Schuttanlagen unter dem Flackturm Humboldhain und natürlich auch in dem Bunker von Nathanael. All die Anlagen gibt es wirklich, bei einigen habe ich auf Basis von Fotos beschrieben was ich sehe, allerdings habe ich bei Nathanael gnadenlos übertrieben. Sein Sanitätsbunker ist weitaus größer als die Anlage auf den Bildern, die mir zur Verfügung standen.
Erfunden ist natürlich Ancienne Cologne. Der Name stammt übrigens von der Lektorin der Agentur, bei der das Buch vor Jahren war. Ancienne Cologne liegt unter Alt-Berlin und Alt-Kölln. Daher auch der Name. Ebenso wie es Ancienne Cologne nicht gibt, ist auch kein Gebäude in Berlin versunken. Das erste Haus, das Camilla unter der Erde entdeckt, gibt es allerdings tatsächlich. Es steht nicht in Berlin, sondern andernorts in Nordhessen – oberirdisch versteht sich.
Hier die Textpassage aus “Glasseelen”:
Als die Flamme aufflackerte, stand sie vor den gestauchten Verstrebungen eines Fachwerks. Die Lehmfüllung platzte an einigen Stellen heraus. Blasse Farbreste nah des Tragwerks zeugten davon, dass der Putz einst bemalt worden war. Behutsam strich sie über die Wand. Sie spürte Holz, Stroh und Sand. Auf den Überresten staubverkrusteter Bleiglasscheiben brach sich die Flamme. Dicht über ihr spannten sich verzierte Träger, in die Worte eingeschnitzt waren.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, die Schrift zu lesen. Nachdem sie mehrfach die Länge des Balkens abgegangen war, hatte sie die Inschrift verstanden:
GOTTES ZORN RIS MICH HIER NIEDER, GOTTES GNADE BAUDT MICH AUCH WIEDER. ALLES IST AN GOTTES SEGEN UND AN SEINER GNADT GELEGEN. GEBAUDT ANNO 1681 12ten JULIUS.
Das hier war eine Hauswand. Camilla trat einige Schritte zurück und betrachtete das unterirdische Haus. Sie entdeckte Fensterläden und einige halbwegs erhaltene Ornamente auf dem Lehm. Was immer passiert war, es musste sehr lang her sein. Auch wenn sie durstig war, müde und verzweifelt, so konnte sie sich doch nicht dem Zauber dieses Ortes entziehen. Neugierig ging sie weiter und sah sich gründlich um. Hier gab es noch weitaus mehr Gebäude wie dieses. Alle möglichen Häuser aus verschiedenen Epochen waren Teil dieses Komplexes.
Berlin Mitte
Hier noch kurz etwas zur Location Berlin Mitte. Sie war sehr praktisch für mich, da die Basis des Romans E.T.A. Hoffmanns “Der Sandmann” ist. Hoffmann hatte die Novelle (Nachtgeschichte) in seinen letzten Lebensjahren geschrieben und genau in der Zeit in Berlin nah der Museumsinsel gelebt. Dort ist er auch 1822 gestorben. Kurz aus dem Nähkästchen: Die Agentur verlangte damals als Eckpunkte für meinen Roman folgende Eckpunkte: Museumsinsel, Berlin und Berliner Unterwelten. Nach langem Grübeln und unzähligen Vorschlägen kam ich dank des Buches „Berliner Bilderbogen“ überhaupt erst auf die Idee einen Roman um Hoffmann zu scheiben. Bis dahin wusste ich nicht, dass er dort gelebt hatte. Es bot sich an die Gesichte zu nehmen, die mir meine Mutter in meiner Kindheit oft vorgelesen hatte, „Der Sandmann“ von Hoffmann. Damit begann der Aufbau dieser Geschichte und aller Locations die mehr oder weniger zentral um die Museumsinsel lagen, aber zumeist fußläufig zu erreichen waren. Mit Hoffmann als Schnittpunkt konnte ich alle Inhalte und Orte von „Glasseelen“ miteinander verbinden, besonders die Unterwelten.
Wer mag, kann also teilweise die Wege von Camilla abgehen; auch unter der Stadt 🙂
Weitere Informationen:
Rohrpost in Berlin (Wikipedia)
Berliner Unterwelten (Wikipedia)
Berliner Unterwelten e. V.
Charité Underground