Wir nähern uns dem Ende der Special Week und wie gewohnt habe ich kurz vor der Verlosung und dem Leserinterview mein eigenes Interview mit Florian Tietgen im Gepäck. Euch erwarten tolle Einblicke in sein Leben, seine Werke und was er mit seinen Büchern verbindet. Wer mehr über ihn und seine Bücher erfahren will (immerhin wurden nur einige wenige hier vorgestellt), der sollte sich auf seiner Homepage umsehen:
Bitte erzähl uns ein wenig mehr von dir. Was machst du in deiner Freizeit?
Schreiben ist doch Freizeit. Zum sportlichen Ausgleich trainiere ich kleine Fußballer, was jeden Nachmittag in Anspruch nimmt.
Was machst du beruflich? Inwieweit fließen Beruf und die Arbeit mit den Fußball-Kids in deine literarische Arbeit ein?
Im Moment habe ich leider aus gesundheitlichen Gründen keine regelmäßige Arbeit. Ab und zu bearbeite ich die Romane von Kollegen. Die Arbeit mit den Fußballkindern sehe ich eher als Ausgleich zum Schreiben, noch ist nichts davon in die Bücher geflossen. »Auf einen Schlag« habe ich geschrieben, bevor ich überhaupt daran dachte, mal selbst Kinder zu trainieren. Die Schauspielausbildung und die pädagogische Ausbildung fließen allerdings mit ein. Deshalb schreibe ich so gern in der ersten Person, weil ich mich dann wie ein Schauspieler in den Protagonisten fühlen und denken kann und die Welt mit dessen Augen sehen. Die pädagogische Ausbildung bewirkt, dass ich so oft aus jugendlicher Perspektive schreibe, obwohl ich schon ein alter Knacker bin.
Wann hast du mit dem Schreiben begonnen? Gab es einen Auslöser, der dich zum Schreiben brachte?
Ich kann mich an keinen Auslöser erinnern. Es gab schon immer Zeiten, in denen ich viel geschrieben habe und welche, in denen ich es gar nicht getan habe. Das begann in der Grundschule und ist bis heute so. Als Kind habe ich mich dabei häufig an den Büchern orientiert, die ich gerade gelesen habe, Enid Blyton in der Grundschule, Simmel oder Böll in der Pubertät. Die Kombination ist ungewöhnlich, aber als Dreizehnjähriger unterscheidet man die Literatur nicht nach gängigen Kriterien, da zählt nur, was einem gefällt. Ab dreizehn habe ich dann Liedtexte geschrieben, so absurd es klingt, zunächst inspiriert von Gunther Gabriels „Hey Boss, ich brauch mehr Geld“. Ich habe aber erst als Fünfzehnjähriger Gitarre gelernt, um sie zu vertonen. Und konsequent geschrieben und daran gearbeitet, habe ich ab 2003. Zwei Jahre zuvor hatte ich zwar schon die erste Fassung zu „Ein tiefer See“ geschrieben, aber erst 2003 habe ich Kurzgeschichten.de entdeckt, mich da registriert und es genossen, auf einmal so viel weiterbringendes Feedback zu bekommen, an dem ich mich schreibend entwickeln konnte. Und oft habe ich da gedacht, das hätte ich gern als Jugendlicher schon gehabt.
Hast du schon damals beschlossen, homoerotische Literatur zu verfassen oder gingen deine Anfangstexte in eine andere Richtung?
Das habe ich nie beschlossen. Ich empfinde sie auch gar nicht als homoerotische Literatur. Meine Hauptfiguren sind halt oft schwul. In einem meiner Liedtexte kam es mal vor und in den Geschichten ist es einfach entstanden. Ich mache mir beim Schreiben nie Gedanken über ein Genre oder eine mögliche Zielgruppe. Dass meine Figuren oft schwul sind, hat viel mehr mit meiner eigenen Sehnsucht nach tiefen Freundschaften zu tun.
Wie viel Zeit brauchst du, um ein Buch zu schreiben? Gibt es irgendwelche festen Prozeduren, wenn du schreibst, oder ist das bei jedem Buch anders?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich schreibe eher langsam, aber es gibt Stoffe, die sich wie von selbst schreiben. Und meist lasse ich die Bücher dann auch noch lange liegen, bevor ich sie noch mal überarbeite, ganz viel wieder streiche, an der Satzmelodie feile. Am liebsten ist es mir, wenn ich morgens um acht beginne und bis mittags schreibe. Dann komme ich auch am besten voran. Aber das lässt die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen nicht zu.
Was sind Deine aktuellen Projekte? Auf was können sich die Leser als Nächstes freuen?
Zurzeit arbeite ich an einer Geschichte um einen fiktiven Hit zur Zeit der Neuen Deutschen Welle und den Mann, der den als damals Sechzehnjähriger gesungen hat. Toll wäre es, eine Band zu finden, dir diesen fiktiven Hit im Vorfeld einspielt und ein Video davon auf den entsprechenden Plattformen veröffentlicht. Gerade E-Books bieten da ja tolle Möglichkeiten, solche Videos verlinkt auch in die Geschichte zu integrieren. Diesen Zusammenklang unterschiedlichster Kreativität finde ich spannend.
Deine Bücher entsprechen nicht ganz den gängigen Gay Romanen, sind sie doch frei von Klischees und Stereotypen. Was hat dich bewogen, in deinen Romanen andere Themen aufzugreifen, als die genretypischen Motive?
Es klingt immer arrogant, wenn ich antworte, ich schreibe ja nicht leserorientiert, aber das meine ichnicht als Sockel, sondern als Fundament. Ich kann eine Geschichte nur schreibend verfolgen, wenn ich sie spannend finde, wenn mich die Figuren reizen und ich auch Lust habe, ihnen so nahe zu kommen, wie es das Schreiben erfordert. Schließlich verbringe ich viel Zeit mit ihnen. An Menschen reizt mich die Brüchigkeit, die Liebe, die Schuld, das, was beides mit ihnen macht und wie sie sich dem stellen oder sich davon erlösen lassen. Mich reizt ihre Tiefe und ich hadere oft damit, dass andere diese Tiefe viel eindringlicher erfassen und erzählen können, verbeuge mich aber gleichzeitig ehrfurchtsvoll davor. Am „Haus der Jugend“ reizte mich die Konstellation von Veränderung und Konstanz. Und in der Konstellation von Homosexualität und Gesellschaft finden wir beides. Es hat sich unglaublich viel zum Positiven verändert, aber die Vorurteile sind konstant geblieben, auch, wenn sie sich auf weniger Menschen verteilen. Und beides Veränderung und Konstanz erleben Menschen passiv und gestalten es dennoch.
Und dann kommt erst die Frage, wie ich das erzähle, um für die LeserInnen vor allem eine interessante Welt zu gestalten, in der sie sich während des Lesens aufhalten möchten, vielleicht einmal innehalten, sich aber vor allem wohlfühlen und dennoch Spannung erleben. Verzeih die lange Antwort, aber ich bin der Überzeugung, LeserInnen und Geschichten gewinnen einfach mehr, wenn die Autoren ihre Themen aufgreifen. Und da komme ich auf das „bewogen“ zurück. Ich kann nur schreiben, was mich bewegt.
Auch enden deine Romane teilweise offen, oder bieten Platz für Spekulationen. Ist dies Absicht und hast du schon einmal interessante Diskussionen über deine Bücher geführt?
Absicht ist es in sofern, dass das Leben, an dem ich als Autor und auch die Leser ein paar Seiten und Stunden lang teilhaben durften, ja weiter geht. Ich mag diese Form des Loslassens. Ihr (die Protagonisten) seid jetzt auf einem guten Weg, es gibt mal mehr, mal weniger Hoffnung für euch, ihr habt die Aufgaben erledigt, seid mal gescheitert, habt mal bestanden, und jetzt lasse ich euch euren Weg selbst gehen, denke ab und zu an euch und treffe ich euch vielleicht in einem anderen Buch wieder. Und darüber habe ich in der Tat schon spannende Diskussionen geführt.
Die meisten Diskussionen führe ich allerdings weniger über offene Enden, sondern über Reizpunkte in Geschichten. In einer habe ich mal einen schwulen linken Autonomen nach einer Demonstration mit einem Stein auf einen Neonazi gehetzt. Die Situation eskalierte, weil der junge Mann immer wütender darüber wurde, wie erotisch und anziehend er den Nazi fand. Über diese Geschichte habe ich richtig viel diskutiert.
Mit welchem deiner Romane hast du dich zum ersten Mal einem schwulen Protagonisten gewidmet?
Das war kein Roman, das war die Erzählung »Ein tiefer See«. Die ist 2001 entstanden, nachdem ich auf einem Internetportal namens »Nicstories« einige Geschichten von einem Autor namens Thomas gelesen hatte. Ich habe den tiefen See dort auch eingereicht, eine sehr nette Antwort von Nic erhalten, er hätte die Geschichte zur Beurteilung an genau diesen Thomas weitergereicht und sie hätten beschlossen, sie nicht auf die Seite zu nehmen. Auch der Thomas schrieb mich noch an. Der Grund lag nicht in der Qualität der Geschichte, sondern in deren Verantwortungsgefühl. Sie hatten Angst, ein missbrauchter Junge könnte sich seines Missbrauchs erst durch diese Geschichte gewahr werden und dann wie Ole aus dieser Geschichte reagieren.
Wie viel fließt aus deiner Erinnerung, deinem Umfeld und deinen Erfahrungen in deinen Büchern?
Das ist unterschiedlich, aber ich glaube fast, der unbewusste Anteil davon ist noch größer als der Teil, den ich bewusst dafür nutze. Schauspieler machen es ja auch so, um authentisch in ihre Rolle zu schlüpfen. Dabei nutzen sie das Grundthema. Betrauern sie in ihrer Rolle den Vater, nutzen sie eigene Verlusterfahrung, eigenen Schmerz, um den Zuschauer die Trauer in der Geschichte spüren zu lassen. Ähnlich ist es ganz sicher nicht nur bei mir beim Schreiben. Dass meine Erfahrungen leider auch bitter sind, teile ich ja mit vielen. Meiner eigenen Kindheitserfahrung komme ich in der Figur Ole in »Ein tiefer See« und in Martin in »Kopfsprünge und der Rücken von Mark Spitz« am nächsten. Allerdings habe ich da sehr viel an direktem Geschehen verändert.
„Haus der Jugend“ hat durchaus philosophische Ansätze. War dies Absicht, oder kam das beim Schreiben?
Das kam eindeutig beim Schreiben. Wenn ich versuche, absichtlich philosophisch zu sein, wird es trocken und langweilig.
Mit wem der beiden Männer identifizierst du dich am meisten – Siegfried oder Darius?
Mit Siegfried, auch, wenn ich noch nicht so weit bin, wie er es ist. Aber diese grüblerische Melancholie, die durchaus auch mit Pragmatismus gepaart ist, kenne ich ganz gut. Siegfried ist aber glaube ich selbstbewusster als ich es bin.
Im Buch gibt es nur teilweise eine Erklärung für Darius‘ ewige Jugend. Hast du für die Leser weitere Informationen zu der fantastischen Komponente deines Buches?
Ich habe daran lange überlegt, auch, weil ich fürchtete, die Geschichte könnte in dieser Form der Auflösung als unstimmig empfunden werden. Ich bin dann aber zu der Entscheidung gekommen, dass mehr Informationen der Geschichte schadeten. Zum einem bestünde die Gefahr eines langweiligen Infodumps am Schluss, zum anderen mag ich diesen unklaren Grenzverlauf zwischen Realität und Fantasie. Bei Darius auch deshalb, weil der Jugendwahn ja durchaus zu den Klischees über schwules Leben gehört.
Auch in „… wenn es Zeit ist …“ baust du eine fantastische Komponente ein. Was reizt dich daran, diese in deine Bücher einzubauen?
Für mich gehört die Fantasie zum Leben. Sie bereichert uns und gibt uns vor allem die Kreativität, reale Probleme zu lösen. Fantasie und Wissen oder Realität lassen sich nicht trennen. Mich selbst reizt daran, dass ich mithilfe der fantastischen oder surrealen Elemente oft Realität viel pointierter treffen kann. Die besondere Gabe von Henrik passt nicht in eine wissenschaftliche Welt, junge Menschen mit weltlicheren Begabungen kämpfen aber oft mit den gleichen Ambivalenzen, mit denen sich Henrik auseinandersetzen muss. Nur lässt sich das in diesem fantasievollen Element für jeden nachvollziehbarer gestalten. Und ich bilde mir ein, für den Leser auf diese etwas versponnene Art auch reizvoller. Als Autor bin ich ja der Reiseführer durch die Welt der Geschichte.
Wie sehr kannst du dich mit Henrik identifizieren?
Das fällt mir leicht. Ich neige leider zu seinem Jähzorn, auch, wenn der sich nicht in körperlicher Gewalt äußert, sondern bei mir bleibt. Mein Urgroßvater besaß die Fähigkeit, mittels Besprechung zu heilen. Das hat er auch bei mir mal gemacht. Als Kind hatte ich entsetzlich viele Warzen auf der Stirn. Ein bisschen von dieser Fähigkeit hat er auf mich übertragen. Auch Henrik ist ein grüblerischer Zweifler, anders als ich scheint er aber etwas aus seinem Potenzial machen zu können.
Das bedeutet, dass die Geschichte durchaus auf realen Erlebnissen basiert, mehr noch: sie betrifft dich persönlich. Baust du in deine Romane immer wieder kleine reale Ereignisse ein oder persönliche Aspekte?
Ich drücke es mal anders aus. Ich nutze mein Leben als Fundus für erfundene Geschichten. Manchmal führe ich auch Dinge zusammen. Meine Mutter ist sogar in dem Haus groß geworden, das ich für diesem Roman Henriks Oma zugedacht habe. Den beschriebenen Garten gab es auch wirklich, allerdings haben wir nie darin gewohnt. Die Handlung, der Vater, der Schulverweis oder der verständnisvolle Schuldirektor sind frei erfunden. Die Ohrfeige wegen des Klassenwürgens bei der Vokabel Spinat habe ich aber wirklich kassiert und leider auch zurückgegeben.
Da das Buch relativ offen endet – planst du vielleicht einmal eine Fortsetzung?
Für dieses Buch hatte ich schon drei Enden geschrieben und zur Veröffentlichung dann das vierte. Im kitschigsten davon endete es mit einem Besuch Henriks bei Jan im Krankenhaus, ausgerechnet ein Pastor als dessen Bettnachbar, der die beiden ermuntert, ihre Liebe zu leben. Für mich war diese Geschichte an diesem Punkt zu Ende, weil sich ab da alles nur noch wiederholen könnte. Henrik hat begriffen und angenommen, dass er anders ist. Der Kampf darum ist abgeschlossen. Wenn sich aus den Konsequenzen neue Konflikte ergeben, ist das eine andere Geschichte. Eine Fortsetzung habe ich bisher nicht geplant, aber vielleicht tritt der erwachsene Arzt Henrik ja irgendwann wieder in meine Fantasie und erzählt mir, wie er mit den Erkenntnissen umgegangen und sein Leben weiter verlaufen ist. Dann lasse ich gern wieder daran teilhaben.
Wie bist du auf die Idee gekommen, Henrik mit diesen Fähigkeiten auszustatten?
Durch ein Buchprojekt des Website-Verlags, an dem wir mit der Seite kurzgeschichten.de teilgenommen hatten. Bei der Themen- und Titelsuche für unseren Beitrag schlug jemand »Metaatem« vor. Wir entschieden uns damals für etwas anderes, aber der Betreiber und ich mochten den Vorschlag so sehr, dass er mich bat, dazu eine Geschichte zu schreiben. Da ich zu dem Zeitpunkt zufällig die Besprechungsformeln meines Urgroßvaters zugeschickt bekommen hatte, lag der Gedanke nah, diese Fähigkeit mit dem Atem zu verbinden und für das Meta zu überhöhen.
Sind die Formeln, die du im Buch verwendest die deines Urgroßvaters? Glaubst du an derartige Befähigungen?
Nein, ich habe eigene Formeln entwickelt. Die meines Urgroßvaters bleiben streng geheim. Es ist komisch, ich bin ja ein politisch denkender Mensch, der gern seine Fantasie benutzt, was solche Befähigungen betrifft, bin ich aber sehr zwiegespalten. Glaube – egal an was oder wen – wird so oft benutzt, um daran zu verdienen, um gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu legitimieren, um Menschen zu manipulieren. Glaube hat aber auch eine ungeheure Kraft, kann die Selbstheilungskräfte aktivieren und helfen, Grenzen zu überwinden. Deshalb möchte ich auch als eher wissenschaftlich denkender Mensch solche Befähigungen nicht nur nicht ausschließen, sondern auch nicht missen. Der Glaube gibt oft die gerade in der Medizin wichtige Zuversicht, weiterzukämpfen.
Was hat dich dazu bewogen, die Geschichte so sprunghaft zu erzählen?
Das ist schwer zu sagen. Ganz sicher hätte sie chronologisch viel zu viele Längen gehabt. Sie hätte dann auch in der dritten Person erzählt werden müssen. Mein Gefühl riet mir zu Assoziationsketten als dem der Geschichten am hilfreichsten dienendem Stilmittel. Wenn Henrik uns anhand der Gegenwart in die Flashbacks seiner Entwicklung nähme, könnten wir uns in der Geschichte bewegen wie bei einer Städtereise. Heute diese, morgen jene Sehenswürdigkeit.
Mit welchem deiner Bücher oder Charaktere verbindest du etwas Besonderes?
Mit Simon aus »Ein tiefer See.« Ich wäre gern wie er und hätte auch gern einen Freund wie ihn. Seinetwegen habe ich mich in Internetforen lange Zeit immer nur als »sim« angemeldet.
Wird man irgendwann Sim wiederbegegnen oder ist er schon einmal in einer deiner anderen Geschichten aufgetaucht?
Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber ich würde mich freuen, wieder von ihm zu hören und schreiben zu dürfen, welche Wege er als Erwachsener ausprobieren und gehen durfte.
Du bist sowohl als Verlagsautor (Neobooks, Knaur) als auch als Selfpublisher aktiv? Welche Form der Veröffentlichung gefällt dir mehr?
Ich persönlich stecke da noch zu sehr in blockierenden Gedanken. Ich hätte gern einen Verlag wie Suhrkamp oder Diogenes, einen klassischen Literaturverlag. Das hat einige fürchterlich eitle, aber auch einige ganz pragmatische Gründe. Die eitlen stecken in meinem Wunsch, in der Welt der Feuilletons ernst genommen zu werden, als Künstler akzeptiert zu sein und dadurch natürlich auch über den stationären Buchhandel andere Verkaufsmöglichkeiten für meine Bücher zu habe, die ich nicht erst selbst erschließen muss. Das hat etwas von einem Künstler, der von seinen Werken zwar nicht leben kann, aber stolz auf deren Aushang in Galerien ist, auf die Vernissagen, das Geschwätz. Ich merke aber bei jeder Buchmesse, ich werde diesen Status nicht erlangen, selbst, wenn ich noch so gut arbeite und schreibe (wozu mir auch noch viel fehlt). Mir fehlt einfach diese Haltung, die ich bei diesen Menschen erlebe. Und da kann ich das Kreuz auch noch so sehr durchdrücken, die Schultern noch so gerade tragen. Ich weiß nicht, wie man diese Haltung erlangt.
Als Selfpublisher brauche ich die auch, da beeinflusst sie aber vor allem den Verkauf, nicht jedoch, ob ich überhaupt veröffentliche. Ich hänge noch immer in dem Gedanken, es sei ein Makel, nicht verlegt worden zu sein, obwohl ich weiß, dass es einem auch Freiheiten bietet, was die Gestaltung und die Vermarktung betrifft und Autoren der Unterhaltungsliteratur ohne Verlag sogar oft besser verdienen.
Was empfiehlst du Jungautoren? Den Gang zum Verlag, oder der Versuch in Eigenregie?
Den Selbstbewussten mit hoher Frustrationstoleranz immer beides. Weil sie auch durch das Feedback bei den Absagen weiterkommen. Den weniger Selbstbewussten kann man im Grunde kaum etwas raten. Es frustriert einfach, egal ob man nicht verkauft oder das Buch nicht genommen wird. Ich würde zumSelfpublishing raten, wenn der Verlag nur als E-Book erscheint. Es ist im Moment leider noch nicht egal, ob ein Buch auch im Print oder nur als E-Book erscheint. Und beim Print vor allem durch große Verlage sind die Chancen, sich durchzusetzen größer.
Für alles, was nicht zur Unterhaltungsliteratur gehört, sehe ich nur außerhalb dieser Selfbublishingnetzwerkamazon-Parallelwelt eine reelle Chance. Aber wie gesagt. Ich bin da auch noch sehr in blockierendem Denken verhaftet.
Gibt es zu Deinen Charakteren lebende Vorbilder?
Der eine oder andere inspiriert mich sicherlich, aber keiner wandert 1 zu 1 in eine Geschichte. »Wozu brauche ich Niko?« zum Beispiel habe ich nach der Geschichte eines Freundes geschrieben. Bei »Anpassung« trägt die Geschichte Spuren eines Mannes, den ich bei meinen Recherchen kennengelernt habe und der es mir vor allem ermöglichte, mit seinen Kindern darüber zu sprechen, wie sie diese Zeit erlebt haben.
Hast Du als Autorin Vorbilder? Was inspiriert Dich?
Wahrscheinlich immer die, die ich gerade selbst lese, egal, ob es Murakami ist oder Shalev, Schami oder Hesse. Ich denke so oft »boah, so würde ich gern schreiben können«, dass es viele Vorbilder gibt, aber vor allem zu viele, um einem davon wirklich zu folgen, anstatt meine eigenen Stil zu entwickeln.
Wie lang begleiten dich gelesene Bücher, deren Protagonisten, Handlung und das Zusammenspiel im Nachgang?
Es gibt Bücher. Die mich ewig begleiten. Tunströms »Solveigs Vermächtnis« oder auch sein »Der Dieb« zum Beispiel. Ich habe sie nicht mehr Satz für Satz im Kopf, aber wenn ich an sie denke, spüre ich immer noch die Wärme und die orgastische Begeisterung, die ich beim Lesen oft hatte. Ähnlich geht es mir bei den Büchern »Der Junge und das Meer« von Aitmatow oder »Wenn die Wale fortziehen« von Rychteâu. Aber ich könnte auch »Trapez« von Zimmer Bradley nehmen. Der Leitsatz »Halte es von der Plattform« hat sich mir als Aufforderung, persönliche Kränkung nicht die professionelle Arbeit beeinflussen zu lassen, tief eingegraben.
Du schreibst auch Krimis. Was reizt dich an diesem Genre?
Krimis kann ich nicht, obwohl ich gerade »Schuld« ein spannendes Thema finde. Wie wirkt sie sich auf ein weiteres Leben aus? Davon sind auch meine wenigen Krimis inspiriert. Auch hier finde ich das Motiv eines Menschen spannender als die Ermittlung. Was macht Menschen zu Tätern? Was lässt sie für den Moment ihrer Tat oder darüber hinaus glauben, sie handelten richtig oder sie hätten keine andere Chance? Ich finde Krimis aber für mich auch deshalb schwer, weil ich als Konsument so wenig Spannung vertrage.
Welche Genre würden dich noch interessieren?
Schwer, ich bin gegen diese Einteilung von Literatur in Genres. Ein Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte … – und wenn diese Geschichte einen fliegenden Elefanten braucht, um erzählt zu werden, wird dieser fliegende Elefant auftauchen. Ich habe noch nie verstanden, warum, obwohl Lesen doch den Horizont erweitern soll, ausgerechnet in der Literatur Grenzen und Schubladen geschaffen werden, weder als Leser noch als Autor. Als Leser merke ich aber immer einen starken Widerwillen gegen Geschichten, die fast nach dem Baukastenprinzip zusammengesetzt sind, um ungeschriebene Genrevorgaben zu erfüllen. Und ich tue mich schwer damit, zu verstehen, wenn mir Menschen sagen, sie läsen ausschließlich diese oder jene Bücher. Das ist mir zu eng.
Wie tief geht Deine Recherche zu Deinen Büchern?
Die Tiefe bleibt immer gleich, der Aufwand, sie zu erzielen, ist von Buch zu Buch verschieden. Das hängt von der eigenen Erfahrungswelt ab. Da ich 1955 noch nicht gelebt habe, musste ich für das »Haus der Jugend« zum Beispiel Interviews mit Menschen führen, die diese Zeit als junge Schwule gelebt haben, um aus deren Sicht ein Gespür für die Atmosphäre zu bekommen. Für »Anpassung« habe ich zunächst in thematischen Internetforen geschildert, was ich vorhabe, und dann bin ich bis in die Schweiz gereist, um Interviews mit Kindern Transsexueller zu führen. In diesen Interviews habe ich gelernt, wie sehr ich meinen Vorurteilen aufgesessen wäre, hätte ich sie nicht geführt. Ich studiere Wetterkarten der in einer Geschichte geschilderten Tage, lese die alten Zeitungsartikel zu den politischen und historischen Ereignissen der Zeit. Ich könnte eine Geschichte nicht im August 1961 spielen lassen, ohne den Mauerbau zu berücksichtigen, nicht mal in Tokio. Dazu haben manche Dinge die Menschen zu sehr bewegt. Selbst, wenn sie in der Geschichte nicht vorkommen, prägen sie die Zeit und die Menschen.
Wie wichtig ist das Thema Liebe und Romantik für Deine Bücher/Dich?
Romantik ist ein starker Ausdruck der Sehnsucht nach Harmonie. In Geschichten bietet sie dem Leser etwas, das er sich für sein Leben wünscht, aber nicht immer besitzt. Mit romantischen Motiven bin ich vorsichtig, weil der eine als Kitsch erlebt, was der nächste romantisch findet. Am schönsten finde ich es als Leser, wenn mir ein Buch hilft, die Romantik in Dingen zu finden, die ich habe. Im Duft von Kamillentee, der immer etwas von liebevoller Sorge in sich trägt, im Flügelschlag einer Schwalbe, im durch Strandgras verdichteten Blick aufs Meer. Wenn ich bei einem Buch die Augen schließen und den Thymian riechen kann, der gerade beschrieben wurde, ohne an mein Gewürzregal zu gehen.
Liebe ist so mächtig, dass sie seit Anbeginn der Geschichten diese initiiert. Das beginnt schon bei der Schöpfungsgeschichte, zieht sich über Koran und Bibel fort und ist heute nicht anders. Liebe tötet und Liebe heilt, Liebe opfert und fordert Opfer. Liebe ist das Motiv für Verbrechen, aber auch das, sich zu überwinden. Sie ist unser wirksamstes Medikament, hat aber auch die grausamsten Nebenwirkungen. Sie kann in keiner Geschichte der Welt fehlen, auch, wenn es sich manchmal nur um die Liebe zu Dingen handelt, oder um die Liebe zur Macht, oder die zum Sport. Und wenn es in einer Geschichte keine Liebe gibt, macht die Liebe sich in genau dieser Geschichte gerade deshalb zum Thema.
Wie stehst Du zum klassischen romantischen “Gay Romance”? Könntest Du in diesem Bereich schreiben?
Ich nehme an, ich könnte es, aber es reizt mich bisher nicht. Vor 5 Jahren hätte ich vielleicht sogar nicht gefragt, warum man sich freiwillig ein literarisches Getto wählt und es Genre nennt. Inzwischen hat sich die Situation Homosexueller in einigen Ländern drastisch verschärft und auch hier ist die Akzeptanz wieder gesunken. Dennoch wäre ich für eine Literatur, in der es am Ende völlig egal ist, ob sich zwei Männer oder zwei Frauen oder Mann und Frau lieben, solange die Geschichte berührt.
Liest Du Gay Romance oder bist du eher ein Fan realistischer Gay-Romane? Wie sieht es allgemein mit denen Buch-Vorlieben aus?
Gay Romance ist einfach ein Etikett, ich kann mit diesem Begriff nicht so viel anfangen. Wenn er Menschen eine Orientierung bietet, in der sie die Bücher finden, bei denen sie sich wohlfühlen, ist er in Ordnung, die Gefahr der literarischen Gettos empfinde ich dennoch dabei. Persönlich lese ich Bücher nicht danach. Ich lasse mich gern verzaubern, zum Beispiel von der Erzählkunst Rushdies oder Schamis,
ich reise gern in die Welten Murakamis, lese Paul Auster oder Ralf Rothmann, zuletzt Meir Shalev, lese sie alle langsam und genieße den Sprachfluss.
Wie findest du den deutschen Markt im Gay Bereich? Wo siehst du ihn (und dich als Autor) in ein paar Jahren?
Ich wünsche den KollegInnen in diesem Bereich, dass der Markt sich hält. Der Literatur wünsche ich eher, dass Grenzen abgebaut und Schubladen geöffnet werden. Auch, weil sich unter den Romanen für diese Zielgruppenschublade viele Geschichten finden, die jeder lesen sollte.
Ich selbst werde als Autor sicher so erfolglos bleiben, wie bisher, obwohl ich sicher bin, auch sprachmelodisch werden meine Bücher reifer.
Was würdest du deine Leser fragen, wenn du etwas wissen möchtest?
Gar nichts. Ich fände das ähnlich eitel wie die Klischeefrage »Wie war ich?« Ich bin neugierig auf die Menschen, auf ihr Leben und die Bedingungen, in denen es stattfindet. Ich würde sie höchstens fragen, was sie zu erzählen hätten.
Deine Worte an die Leser?
Schön, dass ihr eure Sinne öffnet, um die Bücher und die darin enthaltenen Gedanken einzulassen.
Vielen lieben Dank für das tolle, informative Interview.
Ein schönes, interessantes Interview. Sympathisch 🙂