Autor: Paul Senftenberg
Taschenbuch: 124 Seiten
ISBN: 978-3902885586
Preis: 4,49 EUR (eBook) | 8,90 EUR (Taschenbuch)
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Story:
Alle zwei Wochen treffen sich Paul und Stefan in Wien, um ihre Sehnsucht nach schwuler Zweisamkeit auszuleben. Beide sind verheiratet, doch während Stefans Gattin von den heimlichen Neigungen ihres Mannes weiß und diese auf ganz pragmatische Weise toleriert, ahnt Pauls Frau Edith nichts. Das Arrangement der beiden funktioniert – sie haben sogar etwas Ähnliches wie eine feste Beziehung. Das sensible Gleichgewicht zwischen den beiden Männern wird gestört, als Edith eines Tages tödlich verunglückt und Paul urplötzlich mit seinen beiden Kindern allein dasteht. Unter Schock stehend klammert er sich mehr und mehr an Stefan, der sich schon bald von Pauls Nähe erschlagen fühlt. Dennoch liegt es ihm fern seinen Freund in der schweren Zeit allein zu lassen, was bei Paul jedoch vollkommen falsch ankommt …
Eigene Meinung:
Mit „Der Stammbaum“ wagt sich Paul Senftenberg an die klassische Gattung Novelle, was sich nicht nur anhand des geringen Umfangs erkennen lässt, sondern auch an den zentralen Elementen, wie zum Beispiel das Leitmotives und das (Ding)-Symbol, das im Laufe der Geschichte immer wieder zum Tragen kommt. Damit wagt sich der Autor an eine schwierige, literarische Gattung, die heutzutage fast schon in Vergessenheit geraten ist.
Inhaltlich bietet Paul Senftenberg seinen Lesern keine leichte Kost, denn einmal mehr wagt er sich an ein ernstes, aber nur selten angesprochenes Thema – spät entdeckte Homosexualität in einem heterosexuellen Lebensumfeld. So sind die beiden Protagonisten verheiratet und haben Kinder, wollen sich jedoch nicht von ihren Familien trennen. Während Stefan sich mit seiner Frau diesbezüglich abgesprochen hat, schweigt Paul über seine geheimen Sehnsüchte und lebt diese im Verborgenen aus. Dass sich die beiden Männer gerade deswegen zueinander hingezogen fühlen, spürt man mit der Zeit: Ihre Beziehung wird immer intensiver und geht schon bald über eine normale Sexfreundschaft hinaus. Dennoch ist sie nicht gefestigt genug, um Paul aufzufangen, als dessen Frau stirbt und dieser sich nach mehr sehnt. Bei der folgenden Katastrophe schließt sich der Bogen, den der Autor mit Ediths Tod begonnen hat. Obwohl das offene Ende Absicht gewesen sein dürfte, vermisst man doch ein wenig die Erklärungen und Hintergrundinformationen. In diesem Punkt lässt Paul Senftenberg seine Leser unwissend zurück, denn weder erfährt man, ob es sich bei Ediths Tod nur um einen Unfall handelt, noch weiß man, wie es Paul letztendlich ergeht, endet die Novelle doch sehr offen.
Nichtsdestotrotz ist „Der Stammbaum“ lesenswert, insbesondere wenn man Wert auf authentische und lebendige Charaktere legt. Sowohl Paul, als auch Stefan sind in sich logisch, handeln vollkommen nachvollziehbar und sind sehr gut portraitiert. Die Geschichte wird von beiden abwechseln erzählt – der Autor gibt sowohl Paul als auch Stefan eine Stimme, zeigt ihre Vergangenheiten und lässt den Leser an ihren Gedankengängen teilhaben. Ein wenig befremdlich ist die Perspektive von Stefans Frau, die zwar wichtig ist, um ihre Beweggründe zu verstehen, jedoch etwas überflüssig erscheint (was womöglich aber auch daran liegt, dass Edith leider keine eigene Passage zugestanden wurde). Nichtsdestotrotz fügen sich ihre Passagen gut in das Gesamtbild ein.
Stilistisch gibt es kaum etwas zu bemängeln – Paul Senftenberg hat einen sehr soliden, intensiven Stil, der sich angenehm von der breiten Masse der heutigen Gay Literatur abhebt. Auch gelingt es ihm die klassische Novelle wiederzubeleben und eine ungewöhnliche Thematik sehr konzentriert und dicht zu Papier zu bringen. „Der Stammbaum“ beweist einmal mehr, wie wandlungsfähig Paul Senftenberg ist und dass er seine Leser mit ungewöhnlichen Themen und stets aufs Neue überraschen und zum Nachdenken anregen kann.
Fazit:
„Der Stammbaum“ ist eine gelungene Novelle, die mit einer interessanten Geschichte, authentischen Charakteren und einer sehr dichten sprachlichen Umsetzung punkten kann. Einige Punkte hätten durchaus etwas tiefgründiger ausgearbeitet werden können, da viele Fragen (und das Ende) offen bleiben, doch dies passt zu den Merkmalen der klassischen Novelle. Wer sich davor nicht scheut, sollte sich Paul Senftenbergs Novelle nicht entgehen lassen. Es lohnt sich.