Autor*in: Mikita Franko
Übersetzer*in: Maria Rajer
Hardcover: 384 Seiten
ISBN: 978-3455013672
Preis: 10,99 EUR (eBook) / 24,00 EUR (Hardcover)
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Story:
Nach dem frühen Tod seiner Mutter wird der fünfjährige Mikita von seinem Onkel Slawa adoptiert. Gemeinsam mit dessen Partner Lew erlebt Mikita eine unbeschwerte Kindheit, die einzig von der Tatsache getrübt wird, dass es niemandem erzählen darf, dass Slawa und Lew ein Paar sind. Stattdessen bestimmen Lügen und ein regelrechtes Versteckspiel vor Fremden und Verwandten das Leben der Familie und prägen Mikita sehr, der nur schwer verstehen kann, was an seiner Familie falsch sein soll. Mit der Zeit schlägt sein Frust in Aggression und Gewalt um, insbesondere als er bemerkt, dass er sich ebenfalls zu Jungs hingezogen fühlt …
Eigene Meinung:
Mit „Die Lüge“ erschien das Debüt von Mikita Franko, der in Pawlodar, Kasachstan geboren und in Russland aufgewachsen ist. Die ursprünglich online erschienenen, kurzen Kapitel waren Mikita Frankos Weg mit seiner Depression fertig zu werden und gar nicht als Verlagsveröffentlichung gedacht – erst die vielen positiven Rückmeldungen brachten den Autor dazu, sein Skript an einen Verlag zu senden. Das Buch erschien 2020 in Russland und durfte aufgrund der strengen Gesetze nur an Erwachsene ab 18 verkauft werden. Die deutsche Ausgabe kam 2022 bei Hoffmann und Campe auf den Markt.
Die autofiktionale Geschichte begleitet den jungen Mikita von Kindesbeinen an und zeigt sein Heranwachsen bei seinem Onkel Slawa und dessen Freund Lew. Es ist eine unbeschwerte Kindheit, einzig die Tatsache, dass Miki von zwei Männern großgezogen wird, trübt das Glück des Jungen, der niemandem sagen darf, wie seine Familie eigentlich aussieht. Als Leser*in begleitet man Miki auf seinem Weg, sieht ihn heranwachsen und immer unglücklicher werden, bis der Zwang zu Lügen immer brutalere und gewalttätigere Formen annimmt. All dies gelingt dem Autor in sehr direkten, gut nachvollziehbaren Worten – man ist stets nah bei Miki, kann seine Ängste und Sorgen verstehen. Vor dem Hintergrund des Gesetztes über „homosexuelle Propaganda“ in Russland entfaltet die Geschichte einen beeindruckenden Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann, weiß man doch um die Schwierigkeiten mit denen sowohl Slawa und Lew als auch der junge Mikita zu kämpfen hat. Wie viele Elemente der Geschichte autobiografisch sind, kann man nur vermuten, doch man kann davon ausgehen, dass der Autor viel von sich selbst in seine gleichnamige Hauptfigur gesteckt hat, darunter auch die Depressionen, mit der Miki zu kämpfen hat.
Die Figuren wirken sehr authentisch und erreichen die Leser*innen auf mehreren Ebenen. Man ist sehr schnell in der Geschichte, die durch die kindliche Ich-Perspektive Mikitas geschildert wird und lernt ihn dank seiner Gedanken und Gefühle sehr gut kennen. Auch seine Wandlung während der Pubertät ist ehr gut in Szene gesetzt, auch wenn der Sprung vom liebenswerten, besonnenen Kind zum gewalttätigen Jugendlichen recht krass anmutet. Sehr schön sind auch die beiden Väter des Jungen in Szene gesetzt – der ruhige, besonnene und gutherzige Slawa und der etwas kühlere, strukturierte und ernste Lew. Gerne hätte man noch mehr über die beiden erfahren, als das was man über Mikitas Erzählungen mitbekommt.
Stilistisch legt Mikita Franko ein schönes, gut geschriebenes, zum Ende hin etwas unausgereiftes Debüt vor, das durch einen lebendigen Ich-Erzähler und durch die realistische Darstellung queeren Lebens in Russland besticht – bestimmt durch toxische Männlichkeit, einem Hang zum Militärischen und einer Abneigung gegen alles Andersartige, das nicht den gesellschaftlichen Konventionen entspricht. Der Autor legt die Absurdität der Homophobie durch die Augen eines Kindes offen, das nicht verstehen kann, was seine Familie von anderen unterscheidet, fühlt es sich doch sicher und geborgen. Mikita Franko bringt in seinem Coming-of-Age Roman wichtige Dinge zur Sprache, die gerade in Russland viel intensiver diskutiert werden müssten, würde man die Rechte queerer Menschen nicht so stark beschneiden. Leider verliert der Roman im letzten Teil etwas von seiner Wucht, wirkt unausgegorener und unbestimmter, als sei sich der Autor unsicher, was er mit seiner Figur anfangen will. Auch die Sprache wird roher und flacher, was der Geschichte jedoch nicht die Authentizität raubt.
Fazit:
„Die Lüge“ ist ein gelungener, authentischer und gut nachvollziehbarerer Coming-of-Age Roman, der durch realistische Figuren und einen soliden, stimmungsvollen Schreibstil besticht. Mikita Franko ist ein mitreißendes Debüt gelungen, das zu Herzen geht und gerade vor dem Hintergrund queeren Lebens in Russland überzeugen kann, zeigt es doch wie falsch und absurd die Vorurteile sind, mit denen Regenbogenfamilien und queere Menschen zu kämpfen haben. Wer auf der Suche nach realistischen Geschichten mit starker Botschaft ist, sollte auf jeden Fall einen Blick riskieren. Zu empfehlen!