Das folgende Charakterinterview entstand nach dem Lesen von “Haus der Jugend”. Aus diesem Grund lassen sich natürlich Spoiler nicht vermeiden, wenngleich nicht alle Geheimnisse rund um Siegfried und Darius gelüftet werden. Es lohnt sich, das Buch zu lesen – aktuell ist das eBook für 0,99 Euro zu haben!
Der Schwimmponton an den Hamburger Landungsbrücken, mitten im Gewühl, dort, wo schon der Name des Restaurants Steak und Fisch offeriert, treffe ich mich mit Darius und Siegfried. Ein naheliegender Ort, haben die beiden sich doch dort nach 50 Jahren wieder getroffen. Sie sitzen schon, als ich ankomme. Beide erheben sich sofort, als sie mir die Hand geben. Darius kommt um den Tisch, zieht den Stuhl nach hinten, damit ich mich setzen kann. Wir bestellen uns Kaffee.
„Keinen Grog?“, frage ich Siegfried.
„Nein, es ist ja kein Winter.“
Juliane: Zunächst einmal heiße ich euch beide Willkommen und freue mich sehr, dass ihr euch bereit erklärt habt, mir einige Fragen zu beantworten.
Siegfried und Darius: Wir haben zu danken.
Juliane: Meine erste Frage richtet sich daher auch an euch beide, da mich natürlich brennend interessiert, wie es euch ergangen ist, nachdem ihr Darius „befreit habt“. Da der ein oder andere nicht genau weiß, was mit euch geschehen ist, wäre vielleicht ein kleiner Abriss ganz gut – natürlich ohne zu viel zu verraten.
Darius: Nachdem wir das Haus der Jugend verlassen haben, habe ich immer gewartet, dass irgendwas passiert.
Siegfried: Im Auto habe ich immer nach rechts geschaut. Ich hatte Angst, gleich eine lederne Leiche dort sitzen zu haben und Darius wieder zu verlieren.
Darius: Der kurze Abriss. Wir sind in eine einsame Gegend in Schleswig Holstein gefahren, um dem Haus das aktuellste Gemälde zu opfern, das Siegfried von mir gemalt hatte.
Juliane: Wie viel Zeit ist seitdem vergangen und wie habt ihr inzwischen euer gemeinsames Leben gestaltet. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass ihr euch nicht mehr trennen werdet, oder?
Siegfried: Irgendwann werde ich sterben. Ich bin jetzt 80 Jahre alt, damals war ich 70. Wir hatten noch zehn Jahre, das ist viel mehr, als wir während der Rückfahrt damals zu hoffen gewagt hätten.
Darius: Ich altere. Allerdings nicht rapide, sondern ich habe mich einfach wieder in den biologischen Rhythmus gefügt. Ich helfe Siegfried, wo immer ich kann und freue mich, dass er noch so gut beieinander ist.
Siegfried: Die Menschen glauben, du wärest mein Pfleger. Das ist gut. Sonst würden sie dumme Fragen stellen.
Darius: Du brauchst gar keinen Pfleger. Natürlich bleiben wir zusammen und hoffen noch auf viele Jahre.
Juliane: Zehn Jahre also schon – das ist immerhin ein wenig Zeit, die ihr zusammen verbringen könnt, wenn man bedenkt, dass euch fast 50 Jahre trennen. Dass Darius als Pfleger angesehen wird, ist da wahrscheinlich wirklich gut, aber ich stelle mir das auch schwierig vor.
Hast du in den letzten Jahren deine damalige Entscheidung eigentlich bereut, Siegfried? Immerhin hättest du auch einen anderen Weg einschlagen können.
Siegfried: Welche Entscheidung hätte ich bereuen sollen? Als wir damals erneut in das Haus der Jugend gefahren sind, um den Fluch zu beenden, wusste ich, ich müsste offen und neugierig sein. Ich hatte keine Gewissheit, was passieren würde. Aber ich würde mich immer wieder so entscheiden.
Schwierig war es erst danach, Darius eine legale Identität zu verschaffen.
Juliane: Ich meinte eigentlich deine Entscheidung aus dem Jahr 1955. Ich stelle es mir schwer vor, wenn dich über 50 Jahre vom Partner trennen.
Siegfried: 1955 hatte ich keine Wahl …
Darius: Das Aloisiushaus hat dir keine Wahl gelassen …
Siegfried: Ob das Haus oder das Leben, ich hatte keine. Bereut habe ich nur manchmal, wie weh ich Heinrich getan habe. Die treue Seele hat mich geliebt und hat sogar das Gespenst Darius ertragen. In jedem Bild.
Juliane: Oh, dann habe ich das falsch verstanden – ich hatte gedacht, dass du 1955 durchaus die Wahl hattest, so zu werden wie Darius, dich aber dagegen entschieden hast.
Siegfried: Nein, das hast du schon richtig verstanden, aber diese Option schreckte mich so sehr, dass ich sie als Wahlmöglichkeit gar nicht wahrgenommen hatte.
Juliane: Das kann ich verstehen – ich glaube, es würde jeden erschrecken ewige Jugend im Austausch für sein Erinnerungsvermögen zu erhalten. Dass du es schwer hattest, Darius, kann ich mir vorstellen. Wie habt ihr das hinbekommen? Immerhin ist es nicht mehr so leicht einen Ausweis zu „fälschen“ wie damals.
Darius: Mit dem Pass hatten wir Glück. Ich hatte ja noch in München einem Toten den Ausweis abgenommen. Komischerweise hatte den nie jemand als verstorben gemeldet. Und mit viel Überzeugungskraft konnten wir das Geburtsdatum als Eingabefehler glaubhaft machen. Vielleicht haben wir auch nur so lange genervt, bis sie ihre Ruhe haben wollten.
Siegfried: Du und deine Geschichten. Ich habe immer noch gute Bekannte …
Juliane: Wie war das bei dir Darius? Jetzt wo du alterst und nicht mehr unter dem Bann des Hauses stehst – ist bei dir die Erinnerung an deine Vergangenheit zurückgekehrt?
Darius: Nein, leider blitzen höchstens mal kleine Erinnerungen auf, die Provence, ein Moment am Meer. Meist so, wie es jeder auch von sich kennt. Eine Situation wirkt, als hätte ich sie schon einmal erlebt.
Siegfried: Manchmal kannst du auch im Gespräch mit mir plötzlich etwas erzählen, fast als wäre es wichtig, dass du dich erinnerst.
Darius (lachend): Siegfried, hör auf, den Fluch des Aloisiushaus’ neu zu beschwören.
Juliane: Das bringt mich zu der Frage: Ist euch in all der Zeit der „Wolpertinger“ eigentlich jemals wieder begegnet?
Siegfried: In den letzten zehn Jahren ist er uns nicht mehr begegnet – oder dir?
Darius: Nein, mir auch nicht, was schade ist. Ich kann nicht mehr einfach in die Taschen greifen und habe das Geld, das ich gerade brauche oder das Stück Schinken.
Juliane: Haha, das ist natürlich ein Problem. Jetzt musst du wirklich arbeiten, oder? Was machst du denn beruflich, Darius? Jetzt wo du quasi sesshaft geworden bist?
Siegfried: Er müsste nicht arbeiten, er möchte aber.
Darius: Ich möchte es für mich. Ich genieße es, mal keinen Drecksjob zu erledigen. Und du hast mir schon das Studium finanziert. Kannst du dir vorstellen, wie großartig es war, endlich auf dem Papier zu existieren und deshalb studieren zu können?
Siegfried: Er hat Energie- und Umwelttechnik studiert und arbeitet jetzt beim TÜV.
Darius: Und ich fühle mich endlich als Teil dessen, was ich tue. Ich bräuchte tatsächlich nicht zu arbeiten (gibt Siegfried einen Kuss), aber ich freue mich auf die Arbeit, und wenn ich dort bin, freue ich mich darauf, nach Hause zu kommen. Ganz schön spießig, oder?
Juliane: Nachdem man mehrere Jahrhunderte ohne Erinnerungen gelebt hat, ist es verständlich, dass man sich nach Normalität seht. Wie sieht es denn mit deinen Fähigkeiten aus? Früher konntest du doch die Geschichten der Menschen „aus der Haut“ lesen. Geht das jetzt immer noch?
Darius: Nein, das kann ich nicht mehr.
Siegfried: Bei mir machst du es aber immer noch.
Darius: Nur, weil ich dich so gern berühre. Und ich kenne dich gut genug.
Juliane: Vermisst du diese Fähigkeit?
Darius: Nein, ich habe sie selbst, als ich sie hatte, nur ganz selten angewendet. Ich hatte irgendwann keine Lust mehr, mir die Geschichten der Menschen zu erfühlen. Vielleicht habe ich das als eine merkwürdige Art Treue Siegfried gegenüber empfunden, niemandem mehr so nahe zu kommen?
Siegfried: Du hast dich doch nicht mal an mich erinnert.
Darius: Deshalb merkwürdig, weil ich dennoch das Gefühl habe, du warst immer da.
Juliane: Wie war das überhaupt in der Zeit, in der ihr euch nicht gesehen habt – Darius hat ja Siegfried vergessen und umgekehrt. Und was für ein Gefühl war es, als ihr euch eines Tages zufällig wiedergesehen habt.
Siegfried: Ich habe ihn nicht ganz vergessen, sonst hätte ich ihn ja nicht wieder und wieder malen können.
Darius: Es war weniger ein Erkennen, ich wäre ja an ihm vorbeigelaufen. Aber als er mich ansprach, war es eine Gewissheit, wie man sie manchmal hat, bevor etwas geschieht. Jetzt ist es für immer. Als wüsstest du schon bei der Abgabe eines Lottoscheins, du hast mindestens fünf Richtige. Du kannst es nicht wissen, dennoch bist du sicher. Aber erst, wenn du dann wirklich 5 Richtige hast, wird dir vollkommen bewusst, dass du es schon bei der Abgabe gewusst hast.
Siegfried: In Talkshows würde man an dieser Stelle immer sagen, um das zu erfahren, müsste man das Buch nur kaufen.
Darius: Du wirst ganz schön frech auf deine alten Tage.
Siegfried: Ohne Frechheit hätte ich als Schwuler die Sechziger-Jahre nicht überlebt.
Juliane: Na dann sag ich das an dieser Stelle – wer mehr dazu erfahren will, sollte sich das Buch kaufen. Florian hat eure Geschichte immerhin sehr gefühlvoll zu Papier gebracht. Findet ihr, dass Florian eure Geschichte passend erzählt hat? Oder gibt es da Beschwerden?
Siegfried: Ich finde, er hat mir gut zugehört. Manchmal hätte er etwas weniger blumig …
Darius: Hör mal, du bist Maler, das hat er umgesetzt.
Siegfried: So gesehen passt es natürlich.
Darius: Ich kann wenig dazu sagen, auch da hoffe ich, er hat meine Geschichte besser getroffen, als ich sie erinnere. Aber wenn ich das Buch lese, bin ich zufrieden damit.
Juliane: Und? Wird er irgendwann einmal wieder die Ehre haben, etwas über euch zu schreiben? Ich meine 10 Jahre sind vergangen, da ist doch sicherlich auch das ein oder andere passiert.
Siegfried: Wenn ich so sinniere, müsste ich ihm vielleicht noch mal über die Jahre mit Heinrich erzählen …
Darius: Ja, das würde mich auch interessieren. Und du könntest vielleicht etwas bei ihm gutmachen?
Siegfried: Ja, aber das kann ich auch mit ihm allein ausmachen. Er liebte die Öffentlichkeit nicht so sehr.
Juliane: Ganz entlassen seid ihr damit noch nicht. Ich habe jetzt herausgefunden, was Darius beruflich so treibt, allerdings interessiert mich auch, wie es bei Siegfried aussieht. Was macht die Malerei? Bist du immer noch als Künstler aktiv?
Siegfried: Nein, ich hatte das ja schon aufgegeben, bevor ich Darius wiedergetroffen habe und bin dann nur für dieses letzte Gemälde von ihm ins Atelier zurückgegangen.
Ich zeichne nur noch beim Telefonieren.
Juliane: Wie schade … fehlt dir das Malen und zeichnen nicht manchmal?
Siegfried: Nein, es ist, als hätte ich im übertragenen Sinne mein Haus aufgeräumt und nichts mehr zu tun. Ich habe alles gemalt, was es für mich zu malen gab.
Darius: Dafür entwickelst du bei den Bildern junger Kollegen aber noch ganz schön aktiv Ideen, wie man das Thema auch hätte umsetzen können.
Siegfried: Ideen gehen ja nicht aus. Aber es sind nicht meine Bilder. Und die Jungen haben ein gutes Gespür, was sie annehmen und was überhaupt in die Zeit passt.
Darius schmunzelt.
Siegfried: Er hat ja recht, ich gehe immer noch gern in Galerien und Museen, aber mein Pinsel bleibt an seinem Haken an der leeren Staffelei.
Juliane: Was mich auch interessiert, ist, ob du jemals auch andere Modelle für deine Bilder verwendet hast? Seinen Partner Heinrich zum Beispiel.
Siegfried: Heinrich mochte es nicht, wenn ich ihn malte. Ich habe es mal aus dem Gedächtnis gemacht und ihn auch gut getroffen, nur eine Kohlezeichnung, aber er hat verlangt, dass ich sie vernichte.
Dabei hat er es genossen, die unterschiedlichsten Klänge und Rhythmen mit seinen Fingern auf meiner Haut zu erzeugen. Wie als Kind mit dem Zweig auf meiner Lederhose. Aber malen durfte ich ihn nicht.
Und wahrscheinlich hätte ich das jetzt auch besser nicht erzählt.
Juliane: Warum? Denkst du, dass Heinrich wirklich ein Problem damit gehabt hätte?
Siegfried: Er hielt sich gern bedeckt. Deshalb hat er ja auch lieber als Studiomusiker gearbeitet. Da blieb er im Hintergrund und niemand wurde auf ihn aufmerksam. Nach der Geschichte in der Kinderverschickung vielleicht kein Wunder.
Juliane: Kinderverschickung?
Darius: Davon hat Florian im Roman auch geschrieben. Unter den Nazis wurden Heinrich und Siegfried aufs Land geschickt. Und nachdem Heinrich beim Wandern mit einem Zweig immer auf Siegfrieds Lederhose geschlagen hat, gab es eine drastische Strafe. Im Roman wird es ein bisschen als Traum dargestellt.
Juliane: Ah – ich erinnere mich. Dann will ich da gar nicht weiter nachhaken, sondern verweise mal ganz dreist auf den Roman. Zurück zu Heinrich. Über ihn erfährt man ja leider nicht viel. Könntest du uns mehr über ihn verraten? Wie hast du ihn kennengelernt und wie habt ihr gemeinsam gelebt?
Siegfried: Ich kannte ihn ja seit meiner Kindheit. Als er später in einer Zeitung von meiner ersten Ausstellung las, meldete er sich bei mir. Er trommelte immer noch auf allem, spielte immer noch Klavier.
Aber wir konnten erst zusammenziehen, als ich mir das Haus leisten konnte. Er war da. Er verkaufte meine Bilder, handelte die Preise aus, telefonierte mit den Galerien und Museen. Und ab und zu spielte er für irgendwelche Sänger die Klavierparts auf die Schallplatte. Nur zu den Konzerten fuhr er für niemanden mit.
Darius: Ich habe ein paar Aufnahmen gehört. Deutscher Schlager.
Siegfried: Den hat er gehasst. Aber er spielte so gerne Klavier, dass es ihm egal war.
Darius: Er hat gut gespielt.
Juliane: Lebt er noch? Und wenn ja, hat er Darius jemals kennengelernt?
Siegfried: Nein, er ist schon lange, bevor Darius wieder aufgetaucht ist, gestorben.
Juliane: Das tut mir leid. Wie glaubst du, hätte er auf den Mann reagiert, der dich zu all diesen Bildern inspiriert hat?
Siegfried: Ich weiß es nicht. Ich habe ja auch Heinrich wirklich geliebt, nur ist die Sehnsucht eben so viel heißer als die Liebe der Gegenwart. Die Liebe zu Heinrich war so selbstverständlich, deshalb brannte sie nicht so sehr.
Und das hat er sicher gespürt, auch, wenn er es sich nie anmerken lassen hat. Vielleicht hätte er Darius’ Rückkehr als Erlösung empfunden, vielleicht als Bedrohung seiner
Der Autor – Florian Tietgen
Sicherheit. Wir waren bis zu seinem Tod zusammen.
Darius: Mach dir kein schlechtes Gewissen, ich konnte an deiner Haut fühlen, wie sehr du ihn geliebt hast.
Juliane: War Heinrich der einzige Mann, mit dem du zusammen warst, von Darius einmal abgesehen? Es ist schon etwas Besonderes, mit jemandem eine solch lange Zeit sein Leben zu teilen.
Siegfried: Es war es vor allem zu dieser Zeit. Trotz der Bedrohung durch Gesetze und Erpresser haben wir sie ja genossen. Keine Konzentrationslager mehr, keine rosa Winkel. Und wenn auch als Subkultur, es gab Läden, in denen wir uns aufhalten konnten. In München und auch in Hamburg. Und wo man Freiheit empfindet, selbst, wenn sie nicht wirklich da ist, feiert man sie zunächst. Und das natürlich auch mit Männern.
Darius: Ich beneide dich immer um Heinrich, um die jahrelange Treue. Ich hatte das nie. Und ich glaube, auch die nicht verfluchten Männer, mit denen ich schlief, hatten das häufig nicht. Viele gingen hinterher nach Hause zu ihrer Frau, die sie sicher schätzten, bei der ihnen aber immer etwas fehlte. Und niemand konnte dafür. Ihr musstet ja immerhin noch 13 Jahre in der Gewissheit durchhalten, dass eure Liebe eine Straftat war.
Siegfried: Das machte uns komischerweise nur selten Angst.
Juliane: Dennoch ist das eine harte Zeit gewesen – für heutige Maßstäbe nur schwer vorstellbar. Was denkt ihr über die aktuelle Entwicklung – es wird ja viel diskutiert: Homo-Ehe, Adoption etc. Hättet ihr gedacht, dass ihr das einmal miterleben würdet?
Siegfried: 1955 sicher nicht, auch später nicht, als 68 das Gesetz dann endlich gemildert wurde. Aber irgendwann um die Jahrtausendwende schien es ja schon fast, als wäre der Kampf vorbei und gewonnen.
Darius: Ich kann dazu nichts sagen. Mein wirkliches Gedächtnis setzt erst mit der Fortsetzung der Alterung wieder ein. Alles andere ist bruchstückweise mal da, dann wieder weg. Und 2005 war ja eines der Jahre, in denen selbst die CSD-Paraden von Familien mit Kindern besucht wurden.
Siegfried: Verzeihung, die Frage war ja, was wir von der Entwicklung halten. Die finde ich natürlich großartig. Und ich wünsche den Jungen von heute, dass es weiter so zügig vorangeht.
Juliane: Ah, da mischt sich der Autor ein – das muss ich doch gleich nutzen, um mal eine Frage der etwas anderen Art zu stellen: Findet ihr, dass Florian eure Geschichte passend erzählt hat? Oder gibt es da Beschwerden?
Siegfried: Ich finde, er hat mir gut zugehört. Manchmal hätte er etwas weniger blumig …
Darius: Hör mal, du bist Maler, das hat er umgesetzt.
Siegfried: So gesehen passt es natürlich.
Darius: Ich kann wenig dazu sagen, auch da hoffe ich, er hat meine Geschichte besser getroffen, als ich sie erinnere.
Juliane: Hast du dich eigentlich jemals mit deiner Mutter aussöhnen können, Siegfried? Und wie ist deine Beziehung zu deinem Vater gewesen, nachdem du in Hamburg dein Studium begonnen hast?
Siegfried: Ich habe meine Mutter seit München nie wieder gesehen. Ich weiß nicht mal, wann mich ein Notar anrief, weil sie gestorben ist. Das war so weit weg, dass ich ihm nur gesagt habe, ein Erbe würde ich ablehnen. Und gefragt habe ich ihn, ob die Bestattungskosten gedeckt wären. Das immerhin muss man ihr lassen. Sie hat auch, als meine Bilder bekannter wurden, nicht versucht, sich wieder anzubiedern.
Meinen Vater habe ich, bis er starb, ab und zu besucht, er ist aber nie nach Hamburg gekommen, obwohl es hier so schön ist. Erstaunlicherweise war er, der einst überzeugte Nazi, viel offener. Vielleicht kann man eine Überzeugung leichter infrage stellen und sogar aufgeben, wenn es wirklich eine Überzeugung war, nicht nur Mitläufertum? Vielleicht war er aber auch ein Meinungschamäleon, dass immer die Überzeugung teilte, die es ihm an leichtesten machte, vorwärtszukommen. Nazi unter Nazis, Demokrat unter Demokraten. Und in der DDR wäre er möglicherweise Kommunist unter Kommunisten geworden. Aber den Moment, in dem er mir half, habe ich als ehrlich empfunden. Und viele andere später auch.
Juliane: Das ist schade. Aber ich denke, du hast in Hamburg auch viele Freunde gefunden. Gibt es jemanden, der euer Geheimnis kennt und Bescheid weiß?
Siegfried: Nein, nicht mehr. Einen mussten wir wegen Darius’ Ausweis einweihen. Er ist aber wie die meisten meiner Freunde schon gestorben. Das ist der Fluch des Alters.
Darius: Ich bin es ja nicht gewohnt, Freundschaften von Substanz und Dauer zu schaffen. Ich hatte immer Angst um mein Geheimnis. Und jetzt lerne ich erst langsam, Menschen zu vertrauen. Aber so tolerant ist unsere Gegenwart auch noch nicht, dass niemand das Gesicht verziehen würde, wenn er von unserer Beziehung hört.
Juliane: Ja, das ist schon logisch – euch trennen ja „optisch“ knapp 50 Jahre. Was denkst du, wie es weitergehen wird, wenn Siegfried irgendwann nicht mehr da ist (natürlich wünsche ich euch noch viiiiele gemeinsame Jahre, aber man weiß ja nie…)?
Darius: Das lasse ich auf mich zukommen. Dank des Studiums bin ich ja sicher, nicht vor Langeweile umzukommen. In dem schönen Haus hier werde ich wohnen bleiben können.
Ich hoffe, wenn es in vielen Jahren mal wirklich so weit sein sollte, bin ich in der Lage, Freundschaften zu schließen. Aber von mir aus kann Siegfried gern so alt werden, wie ich es bin.
Siegfried: 150? Oder wie alt bist du?
Darius: Ich kann mich doch nicht erinnern.
Juliane: Das würde mich jetzt auch interessieren. Das kann man allerdings im Buch zumindest erahnen, wenn man sich die Passagen über Darius genau ansieht – finde zumindest ich.
Darius: Ganz genau weiß ich es wirklich nicht, dazu reichen die schlaglichtartigen Erinnerungen nicht aus. Ich kann es auch höchstens ahnen.
Juliane: Vielleicht kommt ja irgendwann mehr zurück. Es wäre auf jeden Fall interessant.
So langsam will ich euch aber mit meinen Fragen in Ruhe lassen – ihr habt mehr als genug Geduld mit mir gehabt und euch viel Zeit für mich genommen – ich danke euch.
Darius und Siegfried: Wir haben zu danken, es hat Spaß gebracht.
Juliane: Ich wünsche euch noch alles erdenklich Gute und viele schöne Jahre zusammen – vielleicht ist ja auch irgendwann eine Zeit gekommen, in der wir mehr von Heinrich hören – ich bin mir sicher, Florian wird dann ein geduldiger Zuhörer und Chronist sein.
Darius und Siegfried: Das wird er.
Jetzt habt ihr die Möglichkeit Siegfried und Darius ebenfalls Fragen zu stellen! Schickt sie einfach an Koriko@gmx.de – ich leite sie entsprechend weiter. Alle, die sich bereits jetzt daran beteiligen, nehmen automatisch am Gewinnspiel teil, das am Samstag startet und bei dem es signierte Bücher von Florian Tietgen zu gewinnen gibt.